
allein die Dosis macht narzisstisch …
oder das Selbst und sein Wert
Wissen Sie, wie viel Sie wert sind? Was verstehen Sie unter Wert, werden Sie fragen, und welchen Wert meinen Sie? Den Versicherungswert, den in Euro, den ideellen oder gar den inneren?
Zunächst Ihren eigenen, welchen Wert haben Sie für sich selbst? Mein Wert wird verschieden sein, für die einen hoch, für die anderen gering. Für jemand bin ich alles, für die meisten nichts. Aber für mich selbst? Klar, kommt es nach längerem Nachdenken aus Ihnen heraus, ich hab‘ schon mal bei Gehaltsverhandlungen mit Pokerface zum Chef gesagt, ich kenne meinen Wert sehr gut. Das hat ihn mächtig beeindruckt. Nach Niederlagen tröste ich mich manchmal mit den Worten, ich sei weit unter meinem Wert geschlagen worden. Und nach einem sündteuren Einkauf hab‘ ich schlechten Gewissens gesagt, das bin ich mir wert. Aber sonst …?
Was verstehen Sie unter Selbst, lautet Ihre zaghafte Gegenfrage. Meinen Sie damit mein Hirn und Herz, mein Denken und Fühlen, meinen Körper und Verstand? Das alles zusammen oder noch etwas dazu? Was ist überhaupt das „Selbst“, was das Ich… und wer bin ich?
Und was sind Sie den anderen wert? Das kommt drauf an, eigentlich spricht man kaum darüber. Obwohl sich unsere Welt nur um Geld, Besitz und Werte dreht. Wenn ich genau nachdenke, wird viel über meinen Wert verhandelt. Man schätzt den Wert meiner Gesundheit und je nach errechnetem Ablaufdatum meines Lebens, jenen von Ausbildung, Beruf, Einfluss und Ansehen. Man versichert den Wert meiner Arbeitskraft und meines Besitzes. Ich habe Wert als treuer und potenzieller Kunde, als Stammgast und Wähler. Meine persönlichen Daten und selbst meine Adressen sind sehr viel wert. In jungen Jahren höre ich vom Wert der Jugend und im Alter von jenem der Lebenserfahrung. Ist das aber der wahre, oder besser gesagt: der richtige und der wichtige Wert? Was an mir ist den anderen wie viel wert? Wie misst man das überhaupt? Sie geraten in leichten Stress.
Beruhigen, durchatmen, Adrenalin drosseln. Die einfache Überlegung zum Wert des Selbst ist tatsächlich irritierend und verwirrend. Sie wirft Grundsätzliches auf, stürzt uns in Zweifel und lässt uns ratlos zurück. Vielleicht, weil es um eine der zentralsten Fragen des menschlichen Lebens überhaupt geht. Unsere psychische Entwicklung dreht sich von Anfang an um die Bedeutung des Ich und die Erarbeitung des Selbst. Die Bildung der eigenständigen Persönlichkeit heißt nichts anderes als Etablierung des gesunden Selbstwertes. Unser Empfinden und Denken kreist ständig um Wichtigkeiten und Wert der eigenen Person. Wenn wir über unser Selbstbild nachdenken, geht es genauso um den Eigenwert wie bei den sozialen Kontakten, in der Kommunikation oder im Durchsetzungsvermögen.
Wenn man die psychologische Bedeutung des Selbstwertes betrachtet, ist es eigentlich erstaunlich, wie schwer wir uns tun, ihn zu beschreiben, zu messen und handfest zu machen. Wohl wissen wir recht gut, was mit Selbstwert gemeint ist, können ihn aber nur schwer definieren. Der Begriff des eigenen Wertes ist kaum zu fassen, bleibt unklar und das mag gut sein ein Stück weit geheimnisvoll. Wir spüren aber die Wichtigkeit unseres Selbstwertes sehr genau und reagieren auf Beeinträchtigungen äußerst sensibel. Genauso haben wir ein sehr feines Gespür für das Selbstwertgefühl anderer Personen. Instinktiv erfassen wir, ob jemand selbstsicher und bestimmt, wenig überzeugend und schüchtern ist, ob er ein starkes Ego oder ein zweiflerisches Ich hat. Wir registrieren, ob jemand arrogant und selbstüberschätzend auftritt. Auf niedrigen und noch viel mehr auf übersteigerten Selbstwert der anderen read gieren wir empfindlich und meist irritiert. Mitmenschen mit zu viel Selbstbewusstsein erleben wir als unangenehm und bedrohlich. Nicht selten hängt unser eigenes Lebensgefühl, unser Wohlfühlen von der Selbstwertpräsentation der engeren Mitmenschen ab.
Das Selbstwertgefühl ist jedenfalls ein wichtiger, wenn nicht überhaupt der zentrale Teil des Selbstbildes. Vermessungen von Selbst- und Fremdbild sind aber ähnlich schwierig wie das Abwägen des Selbstwertes. Zwar lassen sich manche Merkmale beobachten und verschiedene Verhaltensweisen eindeutig erfassen, doch ist eine objektive Beurteilung eines Menschen in seiner Gesamtheit methodologisch nicht einfach und hängt ganz entscheidend von der Perspektive ab.
Fremde Beobachter beurteilen Menschen meist negativer als Nahestehende. Die Eigenbeurteilung bringt wenig überraschend ganz unterschiedliche Ergebnisse. Personen mit stark ausgeprägtem Selbstwertgefühl sehen sich als intelligenter, kreativer, kompetenter, aktiver und freundlicher. Neurotische und depressive Personen beurteilen sich selbst zu kritisch und registrieren vor allem die schwachen und negativen Anteile der eigenen Person.
Schon in den 1990er-Jahren haben die amerikanischen Forscher Oliver P. John und Richard W. Robins auf die Bedeutung narzisstischer Züge bei Personen mit zu positivem Selbstbild hingewiesen. In ihren Experimenten, bei denen sich eine größere Zahl von Menschen selbst bewerten sollten, zeigte sich immer wieder folgendes Muster: Nur bei etwa 50 Prozent stimmen Selbst- und Fremdbeurteilung überein. 35 Prozent haben ein negativ verzerrtes Selbstbild, neigen also zur Selbstverkleinerung, die anderen zu Selbsterhöhung, zu Narzissmus.
Nichts interessiert uns mehr als die Meinung der anderen über unseren Wert und unsere Person, im engen Kreis wie in der großen Gesellschaft. Wovor haben wir mehr Angst als vor Kritik, grosachtung, Kränkung und dem Geschicht gelten und keinen Wert zu haben? Wie tut es uns doch wohl, wenn wir hören, wie wichtig und unverzichtbar wir sind. Kaum eine andere Frage ist verlockender, im positiven wie im negativen Sinn. Nichts erzeugt so viel an Angst-Lust-Spannung wie neue Selbsterkenntnisse oder Reflexionen der Mitmenschen über uns. Wir tun sehr viel, um auf unserer Suche nach dem wahren Ich und dessen Wert Antworten zu bekommen: Selbsterfahrungsgruppen und Persönlichkeitsseminare sowie Psycho-Gruppen sind zu einem beachtlichen Wirtschaftszweig geworden. Wir stürzen uns auf „Erkenne dich selbst“-Tests und zahlen viel Geld für die Suche nach dem unbekannten Selbst und den wahren Werten. Wir fahnden nach unserem virtuellen Selbst im Internet und stürzen uns mit voyeuristischer Gier auf Einträge in Facebook.
Wenn es um Selbstwert geht, ist aber nicht nur dessen Art, sondern mehr noch das rechte Maß entscheidend. Der gesunde, gesellschaftlich verträgliche Selbstwert ist in der Mitte zwischen Selbstlosigkeit und Egoismus, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und übersteigertem Selbstvertrauen, zwischen Demut und Stolz, zwischen Selbstverleugnung und Anspruchshaltung angesiedelt. Wird er verrückt, kommt es zu Problemen: zu Neurosen, wenn er zu niedrig ist, zu Narzissmus bei Übersteigerung. Zu geringer Selbstwert ist Boden für Unsicherheit, Kontaktprobleme und Minderwertigkeitskomplexe. Zu hoher Selbstwert führt zu Verhaltensstörungen, Beziehungsproblemen und letztlich oft zu Vereinsamung. Die Frage des Narzissmus ist eine Frage des Selbstwertes.
Ob wir es akzeptieren wollen oder nicht: Das Ringen um den Selbstwert entspricht dem Lebenskampf unserer Psyche. Um den Eigenwert drehen sich Fühlen, Denken, Streben und Hoffen, vom ersten bis zum letzten Atemzug.
Das „Selbst“ bezeichnet den „Gesamtumfang aller psychischen Phänomene des Menschen, welcher die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit ausdrückt“. Es ist gleichsam der „Gegenstand meiner gesamten Psyche, auch der unbewussten. Im Selbst kommen unser Ich-Bewusstsein und unsere spezifische Wesensart zum Ausdruck. Das Selbst ist die Integration all dessen, was wir wissentlich sind, was in unserem Unbewußtsein liegt und welches System an Kontakten wir unterhalten.
Der Mensch benennt das eigene Selbstsein, das Wissen um sich selbst, mit dem Wort „Ich“. Wenn der Mensch weiß, „ich bin Ich selber“, wenn er sich also als bewusstseinsklares, wahrnehmendes, bedürftiges, fühlendes, denkendes und handelndes Individuum erlebt, nennen wir das „Ich-Bewusstsein“.
Das Ich-Bewusstsein ist von verschiedenen Dimensionen abhängig: von der Vitalität, der Gewissheit der eigenen Lebendigkeit und von der Aktivität, vom Wissen um die Eigenbestimmung, ferner von der Ich-Konsistenz, mit der man einen zusammenhängenden Lebensverband meint. Die Ich-Demarkation dient der Abgrenzung meines eigenen Bereiches und die Ich-Identität gibt uns die Gewissheit der eigenen biografischen Identität.
Die beim Narzissmus überdimensionierte Ich-Stärke umfasst all diese Dimensionen. Sie beinhaltet das Durchsetzungsvermögen, die Standfestigkeit im Leben, die Sicherheit und Selbstständigkeit, die Ansprüche an andere und die Fähigkeit, seine Wünsche und Triebe integrieren zu können.
Die Ich-Entwicklung beginnt schon im ersten Lebensjahr. Im Alter von zwei bis drei Jahren ist sich jedes Kind sicher, dass ich Ich bin“. Entscheidend für die Ich-Entwicklung ist die Mutter, welche dem Kind Zuneigung, Wärme und Liebe gibt und das erste Gegenüber, das „Du“ bildet. Dadurch kann sich das Kind abgrenzen und seine eigene Identität bilden.
Nun kann das Ich auf vielerlei Weise gestört sein, vor allem auch durch den Narzissmus. Ein schwaches Ich findet sich bei Neurosen und manchen Persönlichkeitsstörungen, ein gespaltenes bei der Schizophrenie, ein niedergedrücktes bei der Depression und ein gesteigertes bei der Manie. Bei Hirnschäden sind die Werkzeuge des Ich, etwa das Denken und Sprechen, gestört und im Koma erlischt das Ich überhaupt.
Beim Narzissmus kommt es einerseits durch die ständigen Grandiositätsgefühle zu einer Ich-Inflation. Andererseits führen die Verletzbarkeit und Kränkbarkeit sowie die Abhängigkeit von der Bewunderung durch die Umgebung zu einer ausgeprägten Ich-Schwäche. Das Ich des Narzissten ist also unreif, infantil und im Grunde nur vordergründig stark. Kein Wunder, dass Narzissten oft sehr lächerlich wirken:
In einem Land, in welchem Titel von großer Wichtigkeit sind, ließ sich Herr Regierungsrat (oder Hofrat) Professor Doktor XY als Kandidat für ein hohes Amt aufstellen. Auf seiner Wahlkampftour hatte er einen Interviewtermin beim größten Fernsehsender. Während des Gesprächs wurde sein Name eingeblendet, ohne jeden Titel. Nachdem er seinen Auftritt zusammen mit den Beratern analysiert hatte, rief er den verantwortlichen Redakteur an und brüllte ihn an: „Welch stümperbafte Inszenierung. Im Namensinsert war nicht einmal mein Titel angeführt, Sie wollen mich wohl als Proleten präsentieren!“
Zwei Tage später war der Kandidat Gast bei einem schrägen Jugendsender. Er trat im Interview ganz auf modern gestylt auf, mit Jeans und Lederjacke, ohne Krawatte, sprach von Rock und Facebook, erzählte von seinem heimlichen Hobby, dem Motorradfahren. Wiederum gelang ein mitreißendes Interview. Vor dem eingespielten Namen waren alle Titel korrekt angeführt. Nach Kontrolle dos Mitschnitts durch den Kandidaten erhielt der Jugendredakteur einen empörten Anruf: Weshalb haben Sie all die bloden Titel eingeblendet, Sie wollen mich wohl als konservativen Trottel hinstellen!“
Verletzungen des Selbstwertgefühls gehören zu den wichtigsten Quellen aggressiven Verhaltens, sowohl gegen andere als auch gegen die eigene Person. Narzisstische Menschen reagieren auf Kritik oder Bloßstellung mit oft unbeherrschbarem Zorn, mit blinder Wut, mit Rachegefühlen und Aggressivität. Zweifel an der eigenen Großartigkeit sind für den Narzissten nicht zu ertragen. Kränkungen seiner Person erlebt er viel schlimmer als körperliche Verwundungen, tatsächliche oder vermeintliche Kritik ist ihm unerträglich und unverzeihbar.
Ohne eine gesunde Portion an Narzissmus ist eine normale Persönlichkeitsentwicklung gar nicht möglich. Ein Kind ist darauf angewiesen, in der ersten Lebensphase über seine Mutter verfügen zu können, ihre hundertprozentige Zuwendung zu erhalten und von ihr gespiegelt zu werden. Das Kind braucht nicht nur Geborgenheit, Wärme und Nahrung, sondern auch ihre Spiegelung. Im Antlitz der Mutter sucht sich das Kind selbst, kann sich aber nur finden, wenn die Mutter, wie dies Donald W. Winnicott ausdrückt, wirklich das kleine einmalige, hilflose Wesen anschaut und nicht ihre eigenen Erwartungen und Ängste auf das Kind überträgt. Im letzteren Fall findet das Kind im Antlitz der Mutter nicht sich selbst, sondern die Not der Mutter. Das Kind bleibt ohne Spiegel und wird diesen in seinem ganzen Leben suchen – wahrscheinlich vergeblich“.
Wenn die Mutter für das Kind uneigennützig verfügbar ist, also eine spiegelnde Mutter im positiven Sinn darstellt, wenn sie ein emotional warmes Klima erzeugen und auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen kann, entwickelt sich im heranwachsenden Wesen das gesunde Selbstwertgefühl. Sofern die Mutter diese affektive „Nahrung“ nicht liefern kann, wird das gesunde Kind versuchen, diese bei anderen Personen zu bekommen. Sollte eine Mutter durch Krankheit, Depression oder Überlastung zur
Spiegelung selbst nicht fähig sein, sollte sie die Strebungen des Kindes nicht ignorieren, nicht unterbinden und nicht behindern. Wenn das Kind seine Gefühle ohne Angst und Frustration leben darf, wenn es seine Bedürfnisse angstfrei äußern und Freude, Zorn, Angst oder Unsicherheit zeigen kann, wird es Sicherheit und Selbstachtung finden.
Fehlen hingegen in der Mutter-Kind-Beziehung Empathie, Konstanz und Verlässlichkeit, werden die natürlichen Bedürfnisse nicht entwickelt, sondern verdrängt. Es kann sich kein Urvertrauen bilden. Das Kind lässt die natürlichen Bedürfnisse nicht zu und wird verunsichert. Die Selbstansprüche werden als gefährlich erlebt und deshalb verdrängt. Das Gefühl, nicht genügend anerkannt und geliebt zu sein, führt zur emotionalen Unterversorgung, zum ständigen „Hunger nach Liebe“. Daraus kann ein tiefer Schmerz resultieren, der das Kind später in Unsicherheit und Depression stürzt. Wird dieser Schmerz verdrängt, können daraus Selbstwertzweifel und andere neurotische Störungen entstehen. Wird er überkompensiert, entfaltet sich ein Gefühl der eigenen Grandiosität: der Narzissmus.
Vergessen wir also nicht die gemeinsame Basisstörung aller Narzissmusformen, den schwer gestörten Selbstwert. Ein unter ständigen Minderwertigkeitsgefühlen und Versagensängsten leidender Mensch versucht, diese Defizite zu bewältigen und schießt dabei über das Ziel hinaus. Psychologisch wird dann von „Überkompensation“ gesprochen. Wenn ein Mensch sich zu wenig geliebt fühlt, also nicht genügend Wert hat, wird er versuchen, diese Emotion zu erzwingen. Je schwerer er den Mangel empfindet, desto entschlossener, ja radikaler wird er alles tun, um sich „liebenswert“ zu machen. Erhält er von der Umgebung nicht genügend positive Zuwendung, wird er sich diese selbst holen. Mangelt es ihm an Anerkennung durch andere, ist er gezwungen, sich diese selbst zu geben. Daher ist der Drang zur „Selbstwerterhöhung“ besonders ausgeprägt, wenn es in der für die psychische Entwicklung so wichtigen Phase der frühen Kindheit zur Unterversorgung an Zuwendung (= Interesse), Zärtlichkeit (= positive Emotionen) und Zeit (= Anwesenheit) gekommen ist. Der Mangel an diesen drei „Z“, der mit so vielen psychischen Problemen zu tun hat, führt auch zum Narzissmus.